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Im Programmbuch der Berliner Festspiele, oktober 2003

Louis Andriessen: 'Das Herz des Theaters ist die Stimme'

'Der Naturalismus ist der Kunst nicht unbedingt zuträglich', meint Louis Andriessen. 'Ich komponiere lieber Arien und Chöre oder Szenen als fertige Dialoge. Das nenne ich Wozzeck-artiges Sprechen, die pathetische Artikulation: "Ich bin so müde, ich habe furchtbare Kopfschmerzen" – "Ach komm zu mir, mein Kind". Das ist nichts für mich. Film und Theater dieser Art sehe ich mir nicht an. An einer kranken Mutter mit einem Kind im Rollstuhl sollte man sich nicht künstlerisch vergreifen. Selbst Sex und Gewalt sind meines Erachtens als Elemente in einem Kunstwerk ungeeignet. Das sind billige, emotionale Hilfsmittel. Eine Ausnahme mache ich hier allerdings, und zwar für die Herangehensweise von Peter Greenaway. Die Gewalt in meiner Oper Rosa, für die er das Libretto schrieb, ähnelt eher Tom & Jerry als Pulp Fiction. Sie ist zwar furchtbar, aber stilisiert. Daher sagte ich bereits in den 70er Jahren, dass Bachs Passionen eigentlich die besten Opern sind.'

Im umfangreichen Œuvre von Louis Andriessen nehmen, gleichwohl Diskographien und Werkverzeichnisse anderes vermuten ließen, die Kompositionen für Theater, Ballett und Film einen wichtigen, wenn nicht wesentlichen Platz ein. Aber diese Kompositionen, vor allem aus den Anfangsjahren seines Schaffens, sind oft nicht veröffentlicht worden. Zu sehr waren sie an bestimmte, nach gewisser Zeit nicht mehr aufgeführte Produktionen gebunden. Es ist angewandte, oder, wie Andriessen sie mit Vorliebe nennt, funktionale Musik, im Gegensatz zu den autonomen, abstrakten Werken wie Hoketus, De Tijd (Die Zeit) oder De Snelheid (Die Geschwindigkeit), mit denen er um 1980 Furore machte. 'Die beiden Richtungen lagen bei mir lange sehr weit auseinander', erklärt er. 'Die Kompositionen für das Theater gingen mir flott von der Hand, während ich für die Konzert-Stücke viel Zeit brauchte. In den achtziger Jahren, als De Materie (Die Materie) entstand, versuchte ich beides zusammenzubringen: die Erfahrung des Theaters und auch eine große Strenge. Seither gibt es eine Trennung in dem Sinne nicht mehr. Man spürt das in der Musik selbst. Ich verwende das musikalische Material heute frecher, nicht mehr so starr.'

Andriessen, Spross einer mehrere Generationen alten Musikerfamilie, hat das Komponieren sozusagen mit der Muttermilch eingesogen. In jungen Jahren orientiert er sich selbstverständlich an seinem Vater, dem Komponisten Hendrik Andriessen (1892-1981) und seinem sich ebenfalls früh der Theatermusik zuwendenden älteren Bruder Jurriaan (1925-1996). 'Ich bekam es von zu Hause mit. Da ging es entweder ums Theater oder um die Kirche, die im Grunde ja auch Theater ist. Gerade dieses Element hat meinem Vater viel bedeutet, und zwar nicht der profane, sondern der rituelle Aspekt. Und außerdem hatte er immer einen vollen Saal. Natürlich wurde das so nicht ausgesprochen, aber gespürt wir haben das schon. Mein Vater sagte immer: "Wir tun es, um der Schönheit willen und um Gott zu dienen". Das war auch so, aber es gab auch die große Unterstützung vonseiten des Publikums.'

Seine erste Theatermusik komponiert Andriessen vor einem halben Jahrhundert im Alter von 14 Jahren: die Musik für das Puppenspiel Till Eulenspiegel. Das Projekt scheitert vorzeitig und die Komposition (für Blockflöte und Gitarre) endet mit ein paar Skizzen.

Auch während des Studiums am Konservatorium von Den Haag (1954-1962) schreibt Andriessen einige 'funktionale' Werke, unter anderem eine radiophonische Komposition und die Musik für Murder in the cathedral (Mord im Dom) von T. S. Eliot. Das soll die erste Theatermusik werden, die tatsächlich zur Aufführung kommt, in der Vorstellung eines Jesuitengymnasiums in Den Haag. 1960 bittet ihn der Pantomime Will Spoor, die Musik für eine seiner Vorstellungen zu komponieren. 'Ich glaube, das war mein erstes Auftragswerk, und danach hat es nicht mehr aufgehört', erinnert sich Andriessen.

Ein Großteil seiner in den sechziger Jahren komponierten, funktionalen Musik ist im Nebel der Zeit verschwunden. Das gilt in gewissem Sinne auch für die Oper Reconstructie (Wiederaufbau) aus dem Jahr 1969, die auf dem Holland Festival desselben Jahres großes Aufsehen erregt. Es handelt sich um ein groß angelegtes Gemeinschaftsprojekt, an dem zwei Librettisten (die Schriftsteller Hugo Claus und Harry Mulisch) und fünf Komponisten (Andriessen, Reinbert de Leeuw, Misha Mengelberg, Jan van Vlijmen, Peter Schat) mitgewirkt haben. Das auf dem Höhepunkt des Vietnamkrieges geschaffene Opernwerk hat einen deutlich antiamerikanischen Tenor und wird knapp 25 Jahre nach Kriegsende und der Befreiung der Niederlande durch die Westmächte nicht überall positiv aufgenommen. Die Musik ist polystilistisch. Die Partitur ist für das eigens für diese Gelegenheit gegründete Orchester, Live-Elektronik, improvisierte Partien für Jazzmusiker und eine Skala von Sängern vorgesehen, unter denen sich auch Schauspieler und zwei bekannte Kabarettisten befinden. Neben seriellen Passagen klingen Popsongs und ein Mozart-Pasticcio in der Manier des Don Giovanni, der als Sinnbild des amerikanischen Imperialismus fungiert.

Reconstructie ist ein kollektives Werk, dessen Bestandteile durch so viele Hände gegangen sind, dass die Künstler selbst nicht mehr mit Sicherheit sagen können, wer für welche Partie verantwortlich ist. Von den fünf beteiligten Komponisten ist es besonders Andriessen, der es versteht, die musikalischen Tarnungen und Entlehnungen auf ganz eigene, charakteristische Weise zu prägen, eine Fähigkeit, die er mit seinem großen Vorbild Strawinsky gemein hat. Die folgenden Kompositionen aus dieser Zeit bestätigen das. So enthält das ebenfalls aus 1969 stammende und wiederum polystilistische Orchesterwerk Anachronie II ein winziges Oboenkonzert im Stil des Barocks.

Diese Experimente mit Stilzitaten können im Nachhinein als Phasen einer kreativen Entwicklung gesehen werden, die 1976 einen ersten Höhepunkt mit dem Hochwerk De Staat erreicht, in dem Andriessen Elemente der so genannten Minimalmusic mit dem gewaltigen Sound einer Big Band verbindet. De Staat klingt nach Andriessen und nach niemandem sonst.

In seiner Eigenschaft als Komponist funktionaler Musik bedient sich Andriessen gern seiner chamäleonischen Fähigkeit. Ein anschauliches Beispiel ist die Musik, die er 1973 für den Film The Family von Lodewijk de Boer komponiert. Andriessen 'stiehlt' hier unverblümt aus allerlei gängigen Stilen der Filmmusik, schreibt Pseudo-Gangstermusik oder zitiert Morricone, und hinterlässt dennoch auf allen, selbst den winzigsten Elementen seine unverwechselbaren Fingerabdrücke. Das gilt insbesondere für die breit aufgebaute Schlussszene mit bedrohlicher, sich quälend langsam steigernder Musik auf einem Bluesakkord [unbequem übersetzt] mit fast Brucknerscher Grandeur, die im selben Jahr in On Jimmy Yancey nochmals zur Geltung kommt und die als Vorbote der monumentalen, rigoros konstruierten Konzertmusik gelten kann, mit der er sich als Künstler etablieren wird.

Um 1970 beschließt Andriessen, nicht mehr für Sinfonieorchester zu schreiben, sondern nur noch mit einzelnen Musikern und Ensembles zusammenzuarbeiten, die seiner Musik tatsächlich zugetan sind. Solche Gesellschaften sind zu diesem Zeitpunkt noch selten, und so umgibt er sich verschiedene Male mit Musikern, mit denen und für die er neue Kompositionen realisiert. Zwei dieser Ensembles, das Orkest De Volharding und Hoketus, beide benannt nach den für sie komponierten Werken, arbeiten anschließend unabhängig weiter. Hoketus löst sich zehn Jahre später auf und De Volharding ist nach gut dreißig Jahren immer noch aktiv.

Die Zusammenarbeit mit der Theatergruppe Baal ist für Andriessens Entwicklung als Komponist von Theatermusik von großer Bedeutung. Sie beginnt 1976 mit Mattheus Passie, gefolgt von Orpheus (1977) und George Sand (1980).

Mit Mattheus Passie versetzen die Künstler einer der wohl heiligsten Kühe der niederländischen Musiklandschaft einen kräftigen Tritt: die Aufführung von Bachs Matthäus Passion um Ostern herum im ganzen Land (wie heilig dieses Ereignis ist, mag daraus hervorgehen, dass das Publikum in manchen Fällen gebeten wird, auf Applaus zu verzichten).

Baal bedient sich mit Vorliebe der Entfremdungstechniken Bertolt Brechts. Die von Leonard Frank, Gründer und künstlerischer Leiter der Gruppe, stammende Idee für eine alternative Mattheus Passie, passt perfekt in dieses Gedankengut. Und Louis Andriessen ist durch seine Fähigkeit zu musikalischer Mimikry und seiner großen Liebe zu Bach für dieses Projekt wie geschaffen. Von Andriessen stammt auch der Vorschlag, den Autoren und großen Kenner der deutschen Kultur Louis Ferron zu bitten, das Libretto zu schreiben.

Das Resultat ist eine gleichermaßen respektlose wie burleske Vorstellung. Gesprochene Passagen wechseln mit Gesangsnummern voller Doppeldeutigkeit und Anspielungen auf Bach und Strawinsky, wiederum unter der Begleitung eines eigens für dieses Projekt zusammengestellten Ensembles.

Wichtig für Andriessens späteres Schaffen ist der Entschluss, keine professionell ausgebildeten Sänger zu engagieren, sondern alle Partien von den Baal-Schauspielern singen zu lassen. 'Ich sah die Beschränkungen nicht klassisch ausgebildeter Sänger als Vorteil', sagt er später, 'und noch immer sehe ich lieber singende Schauspieler als schauspielernde Sänger. Dann hört man nicht die Klischees des affektierten Singens, was mir an der klassischen Musik gerade so missfällt. Bei nicht ausgebildeten Sängern klingt es oft furchtbar sauber oder sehr raffiniert: gerade ein wenig zu hoch, wodurch es dann genau passt. Und auch der Inhalt des Textes kommt oft besser zur Geltung.'

Selbst betrachtet Andriessen die Zusammenarbeit mit Baal als bestimmend für sein Verständnis von Theatermusik. 'Das Schöne am Theater ist natürlich, immer mit einer Menge anderer Leute zu tun zu haben, die einem einfach sagen, was stimmt und was nicht. Für Konzertkomponisten, die gewöhnlich in Eigenverantwortung arbeiten, mag das nicht so einfach sein, aber für mich steckt gerade in der Gemeinsamkeit die Herausforderung. So komme ich auf Ideen, auf die ich sonst nie gekommen wäre, auch jetzt noch, wo ich doch so was wie ein alter Hase in dem Fach bin. Als ich an Inanna arbeitete, habe ich Paul Koek manchmal Passagen vorgespielt, und der sagte dann in etwa: "Aber nein, hier musst du Enki noch mal aufschreien lassen", und das war eine wunderbare Idee. Da kam natürlich noch hinzu, dass Paul nicht nur ein interessanter Regisseur, sondern auch von Hause aus Musiker ist. So ging es mir in den Siebziger auch mit Lodewijk de Boer, der bei den Baal-Produktionen Orpheus und George Sand Regie geführt hat. Lodewijk fing als Bratschist im Concertgebouworkest an, wurde aber später Bühnenautor und Theaterregisseur. Das war mir natürlich gerade recht, weil er der Musik gern den Vortritt ließ.'

'Die Arbeit mit solchen Regisseuren ist wesentlich einfacher und inspirierender als mit nichtmusikalischen Regisseuren. Und dann gibt es noch die vielleicht nicht ausgesprochen musikalischen, aber dafür sehr intelligenten Regisseure wie Leonard Frank und Peter Greenaway, die immerhin ein so gutes Gehör haben, dass sie hören, ob etwas stimmt oder ob es vorsätzlich nicht stimmt, denn das ist natürlich auch wieder in Ordnung.'

Von 1984 bis 1989 arbeitet Andriessen an der Komposition, die als sein Meisterwerk betrachtet werden kann und in der ihm die Synthese zwischen den vielen kontrastierenden Themen seiner musikalischen Denkwelt gelingt: die Tetralogie De Materie. Das Werk ist keine Oper, sondern viel eher ein Ideenstück, in dem die Beziehung zwischen Ratio und Emotion, oder wenn man so will, zwischen Geist und Materie stets in neuer Gestalt zur Sprache kommt und dessen vier Teile als Einzelwerke konzertant aufgeführt werden können. Andriessen bestimmt die Dramaturgie des Stückes bis zu einem gewissen Grad selbst und für das Libretto bedient er sich bereits bestehender Texte. Wesentlich ist hier der Bezug der einzelnen Elemente zur niederländischen Kultur. Im ersten Teil etwa erklingen der Text des Plakkaat van Verlatinge von 1581 (die niederländische Unabhängigkeitserklärung), eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Bedienungsanleitung für den Schiffbau und eine Abhandlung des Physikers Gorlaeus zu einer unaufhörlich hämmernden Musik, deren große Struktur nach dem Präludium in Es-Dur aus Bachs Wohltemperiertem Klavier I modelliert worden ist. Für den amerikanischen Regisseur Bob Wilson liegt damit das Konzept für das Bühnenbild – eine Schiffswerft – bereits fest. Noch deutlicher ist es in Teil 2, Hadewijch, in der Andriessen die mittelalterliche Mystikerin singend durch die Kathedrale von Reims gehen lässt. Jedes Mal, wenn sie eine Säule passiert, erklingt ein gewaltiger, fortissimo gespielter Akkord. Wilsons Regiestil mit seiner im Allgemeinen trägen Entwicklung schmiegt sich wie ein Handschuh um die monumentale, breit aufgebaute Musik von Andriessen, die sich auf verborgene Zahlenverhältnisse und auf aus anderen Kunstwerken entlehnte Proportionen stützt.

Anders als in den Baal-Produktionen wird De Materie, wie auch Andriessens folgende Opern Rosa und Writing to Vermeer (Briefe an Vermeer), von Berufssängern gesungen, was angesichts des musikalischen Schwierigkeitsgrades keine vergebliche Liebesmüh ist. Die Sänger wissen sich dem vom Komponisten angestrebten Gesangsstil gut anzupassen. Die musikalische Begleitung der drei Werke obliegt der Koproduktion zweier führender niederländischer Gesellschaften für Moderne Musik, dem Asko Ensemble und dem Schönberg Ensemble, unter der Leitung von Andriessens früherem Mitstreiter Reinbert de Leeuw.

Andriessen arbeitet zudem mit verschiedenen Choreographen wie Bianca van Dillen und Beppie Blankert zusammen. Im Laufe der Jahre schreibt er unter anderem Musik für Dubbelspoor (Doppelgleis) (1986), De Trap (Die Treppe) (1991, später umgearbeitet zu dem Konzertstück Dances) und Odyssey (1996). Die meisten dieser Kompositionen haben aus praktischen Gründen eine kleine Besetzung. Für Andriessen unterscheidet sich das Komponieren für Tänzer nicht wesentlich von der Vertonung anderer Formen des Musiktheaters: 'Dort herrschen doch dieselben Gesetze. Am Anfang gilt es, eine allgemeine Vorstellung von der Emotionalität zu bekommen, also Tempo, Dramatik und so weiter, und anschließend beschäftigt man sich mit der Frage nach der Form. Oft bespricht man dann mit dem Choreographen oder der Choreographin den Ablauf der Handlung und wie man ihn zeitlich aufteilt. Darin habe ich natürlich große Erfahrung, denn darum geht es in meinem Fach – um die Zeiteinteilung. Für die Choreographen ist das oft wiederum ein Hilfsmittel. Und auch hier gibt es Austausch. Beppie Blankert hat zum Beispiel ein sehr gutes Gehör. Wenn sie zu mir sagt: "hier geht es zu schnell", hat sie immer Recht. Das macht sehr viel aus. Aber im Prinzip geht es immer um die formalen Strukturen. Die bespricht man mit dem Choreographen, dem Librettisten oder dem Filmemacher. Und bis das erledigt ist, hat man schon lange einen bestimmten Klang im Kopf oder eine bestimmte Besetzung – dann ist die Grundierung schon mal vorhanden. Ich würde fast sagen, dass das die halbe Arbeit ist.'

De Materie bildet einen Höhepunkt in Andriessens Œuvre, aber noch lange kein Ende, denn eines der Wesensmerkmale seines Schaffens ist der unablässige Versuch, über die eigenen Grenzen hinauszuwachsen. Diesbezüglich ist die Zusammenarbeit mit dem britischen Cineasten Peter Greenaway, die sich in den neunziger Jahren in einem Fernsehfilm und zwei Opern niederschlägt, für Andriessen ein wichtiger Impuls.

Mit Greenaways Werk kommt er 1982 zum ersten Mal in Berührung, als er in London dessen ersten großen Film The Draughtsman's Contract (Der Kontrakt des Zeichners) erlebt: 'Ich glaube, dass ich in Greenaways Filmen etwas von meiner eigenen Arbeit erkannte, nämlich die Kombination von intellektuellem Material und vulgärer Direktheit.' Als Andriessen 1991 von der BBC gebeten wird, anlässlich des 200. Todestages von Mozart zusammen mit einem Filmregisseur ein Video zu produzieren, braucht er nicht lange zu überlegen. Der entstandene Film, M is for Man, Music, Mozart, bietet eine Aufeinanderfolge von sieben flotten Musikstücken, ausgeführt vom Orkest De Volharding und Sängerin Astrid Seriese und eine ebenso flotte Bildregie, in der Greenaway das Theatrum anatomicum aus dem 17. Jahrhundert zu neuem Leben erweckt.

Diese erste Zusammenarbeit bekommt eine beeindruckende Fortsetzung mit zwei großen, nach Inhalt und Stil diametral entgegengesetzten Opern, Rosa, a Horse Drama (1994) und Writing to Vermeer (1997-98).

Das Libretto von Rosa gehört zu den wahnsinnigsten Schöpfungen Greenaways, wenn nicht gar der gesamten Musikgeschichte. Der Protagonist ist Juan Manuel de Rosa, ein Komponist von Cowboyfilmmusik, der seine Frau Esmeralda auf ziemlich unfreundliche Weise missbraucht und der von zwei von einer Filmleinwand entflohenen Western-Schauspielern ermordet wird. Um das Geschehen flicht Greenaway ein doppelsinniges Netz, in dem Charaktere ihre Rollen vertauschen und die Oper selbst kommentiert wird.

Für Andriessen ist dies Anlass, Musik zu komponieren, in der der Begriff 'Zugänglichkeit' ein Schlüsselwort ist. Unter Verwendung einiger stets wiederkehrender Elemente kreiert er eine Partitur, ein musikalisches Amalgam, das von seinen eigenen Akkordkreationen bis zu bereits zwanzig Jahre eher in The Family verwendeten Filmmusik-Klischees reicht und das nach Greenaways Libretto mit einer Sammlung von von einer rappenden Sängerin vorgetragenen Fußnoten endet.

So überschwänglich und überladen Rosa ist, so zurückhaltend und vergeistigt ist ihr Nachfolger, Writing to Vermeer. So ist das tragende Moment in dieser Oper die Musik und wird die Vorstellung nicht in erster Linie von Greenaway, sondern vielmehr von Andriessen geprägt. Ein auffälliges Kennzeichen des Librettos ist das nahezu Fehlen jeglicher Handlung. Es besteht aus nicht mehr als sechs fiktiven Briefen an den im 17. Jahrhundert lebenden Maler Johannes Vermeer von der Hand seiner Frau, seiner Schwiegermutter und eines vom Librettisten ersonnenen Mädchens, eines der Modelle Vermeers.

Beseelt von der Liebe zu Vermeer nimmt sich Andriessen vor, 'schöne' Musik zu schreiben. Das Resultat ist eine transparente Partitur mit einer (auch durch das Fehlen von Männerstimmen) hohen Tessitur. Die angewandten Streichtechniken folgen der Aufführungspraxis des frühen Barocks. Doch lässt Andriessen das zwanzigste Jahrhundert nicht außer Acht: In der sechsteiligen Struktur des Librettos, verbunden mit dem Fehlen jeglicher Entwicklung, sieht er eine Parallele zu Six Melodies, einer Komposition für Violine und Piano von John Cage aus dem Jahr 1950, aus der er die Zeitverhältnisse für die sechs Szenen übernimmt. Für den Aufbau der beiden mittleren Szenen borgt er erneut von Cage –dieses Mal aus Sixteen Dances aus dem Jahr 1951. Als Gegengewicht zu so viel Serenität werden einige Elemente aus dem Werk des niederländischen Komponisten Jan Pieterszoon Sweelinck (1562-1621) in die Partitur integriert, und fügt Andriessen, sich auf die eher beunruhigenden historischen Entwicklungen zu Vermeers Zeit berufend, einige dramatische Unterbrechungen ein, für die er einen Fachmann für elektronische Tonbearbeitung, seinen ehemaligen Schüler Michel van der Aa (*1970) um Unterstützung bittet.

Auch für den Videofilm The New Math(s), der im Jahr 2000 in Zusammenarbeit mit Hal Hartley entsteht, übernimmt van der Aa die elektronischen Interludien. The New Math(s) entsteht erneut auf Veranlassung der BBC. Andriessen: 'Hartley eroberte mein Herz mit Surviving Desire. Mir gefiel so ungemein gut daran, dass man erst dachte, es sei ein ganz normaler amerikanischer Film mit hübschen, leicht dümmlichen, genervten New-Yorkern. Aber dann sprechen die Leute plötzlich in ganzen Sätzen, nach einer Art griechischem Drama und sie sehen einander auch nicht richtig an. Sie werden zu Schauspielern mit einem modernistischen Theater-Stil. Das Verhalten und die Intonation waren dann aber doch wieder sehr realistisch. Sein Werk hat mich direkt an Jean-Luc Godard erinnert, ein französischer Filmemacher aus den 60er und 70er Jahren, dem ich immer treu geblieben bin und in dessen Filmen ich ein ähnliches Phänomen antreffe – im ersten Augenblick denkt man, es sei ein ganz gewöhnlicher Film und erst bei näherer Betrachtung merkt man, dass da überhaupt nichts stimmt.'

In The New Math(s) lässt Hartley drei Protagonisten erscheinen, die wegen einer schwierigen mathematischen Formel anfangen miteinander zu kämpfen. Die Art und Weise, wie das Handgemenge ins Bild gebracht wird, erinnert an die choreographierten Kampfszenen in amerikanischen Massenfilmen.

Andriessen schreibt die Musik zum Film für das vierköpfige Ensemble Electra. Als musikalisches Pendant zu den vorkommenden Verfolgungsszenen komponiert er drei Kanons, oder – um den anschaulichen englischen Begriff zu benutzen – catches.

'Ich hatte Hartley damals schon den Vorschlag für eine Gemeinschaftsproduktion für das Theater gemacht, in größerem Maßstab, und ihm auch sofort das Thema genannt: die sumerische Göttin Inanna. Naures Atto, eine Koryphäe auf dem Gebiet, hatte mich auf die Idee gebracht. Mich faszinierte die Geschichte und außerdem war mir diese Kultur vollkommen unbekannt, darum wollte ich mich gern mit ihr befassen. Und schon bald wurde mir klar, dass die Geschichten großen Einfluss auf die ägyptische wie auf die griechische Mythologie hatten, und nicht zu vergessen auf das Christentum: allein schon wegen der Kreuzigung.

Inanna ist eine starke Frau, die außer auf die Liebe auch auf ihre Macht Wert legt. Es gibt verschiedene Geschichten über sie, aber die Vorlage, die wir hier gebrauchen, ist ihre Fahrt in die Hölle, oder besser gesagt in die Unterwelt und das Totenreich, wo sie die Macht an sich reißen will, obwohl ihre Schwester Ereshkigal dort die Herrschaft hat.'

Zwar werden in der Vorstellung auch Videoaufnahmen gezeigt, aber von Hartley stammen sie nicht. 'Theater ist Theater und Film ist Film', soll er dazu gesagt haben. 'Aber anscheinend fand er die Herausforderung interessant, nur das Libretto zu schreiben.'

Inanna wird von der Schauspielgruppe ZT Hollandia aufgeführt. Die von Andriessen gewählte Form und Arbeitsweise sind denn auch mit den Produktionen mit Baal aus den siebziger Jahren vergleichbar. Den Part der Inanna singt die italienische Sängerin Cristina Zavalloni, für die Andriessen bereits einige Stücke komponiert hat. Alle anderen Partien werden von Schauspielern gesungen. Außerdem gibt es einzelne gesprochene Passagen. 'Es hat wieder mal viel mehr mit Musiktheater als mit Oper zu tun', so Andriessen. 'Das ist ein Unterschied. Es kommen Klangeffekte vor, für die Leute von Hollandia verantwortlich sind. Ferner habe ich eine eigene kleine Band gegründet: ein Saxofonquartett – vier frischgebackene Absolventen aus Den Haag – das in der Höhe von Monica Germino auf der elektrischen Geige und in der Tiefe von einer Kontrabassklarinette ergänzt wird. Ich will so etwas wie ein sandiges Urgeräusch erzeugen, das irgendwie eine mesopotamische Allusion hervorruft. Das Stück besteht im Grunde aus Gesangsnummern, wie bei Baal: Ouvertüren, Szenenmusik, eine Prozession, und natürlich einfach Songs und Schlusschöre. Die einzelnen Schauspieler haben eigene Themen und Motive, aber die stehlen sie im Verlauf des Stückes von einander. Man kann sich auf niemanden verlassen, es ist ein eigenartiges Lumpenpack.'

Dem geschulten Ohr werden die Fingerzeige auf die Musikgeschichte in der Partitur nicht entgehen. So lässt Andriessen in dem Moment, wo die Unterwelt ins Bild kommt, ein kurzes Zitat aus Strawinskys Orpheus erklingen, und beim ersten Auftritt von Ereshkigal sind Anspielungen auf Jacques Offenbach zu hören, der einst Orphée aux enfers (Orpheus in der Unterwelt) komponierte.

'Besonders wichtig ist mir', fährt Andriessen fort, 'dass die Götter in Sumerisch singen. Als ich schließlich das Libretto hatte, fand Naures Atto die Zeilen wieder, für die Hartley die Originaltexte verwendet hatte. Damit suchten wir den Assyriologen Theo Crispijn in Leiden auf. Er konnte uns darauf die ursprüngliche Version in Sumerisch liefern. Es bleibt selbstverständlich nur eine Annäherung, denn niemand weiß, wie sich die Sprache wirklich angehört hat. Aber Hartley verwendet auch Texte, die nicht auf die ursprünglichen Quellen zurückgehen, die lasse ich in Englisch singen. Das kann zu lustigen Zusammenstößen führen. Manchmal begreift man überhaupt nicht, was los ist. Das stimmt. Manchmal ist das Gesungene nicht zu verstehen. Das gestatte ich. Aber erstens gibt es Übertitel und zweitens kann man der Handlung ziemlich gut folgen.'

Andriessen hat sich in den ersten Jahrzehnten seiner Karriere leidenschaftlich um die Entwicklung einer musikalischen Sprache und das Lösen formaler Probleme bemüht, bekennt aber, dass die außermusikalischen Elemente wie Bild und Text in den letzten Jahren viel mehr sein Interesse wecken. 'Mir gefallen vor allem die ganzen Mixed media-Projekte der letzten Jahre. Durch die kleineren Bühnenstücke sind die verschiedensten Formen der Zusammenarbeit mit Filmemachern, Videomakers und bildenden Künstlern zu Stande gekommen. Es liegt mir nicht, selbst die grafischen Möglichkeiten des Videos zu ergründen, da arbeite ich lieber mit Fachleuten zusammen. Das finde ich sehr aufregend.

Und dann gibt es noch das Problem des Singens – das ist meine letzte Aufgabe. Das Herz des Theaters ist die Stimme, also – von der Musik aus betrachtet – das Singen. Damit meine ich nicht den Gesang, den sie auf dem Konservatorium lehren, sondern was Schauspieler von sich aus machen: den richtigen Tonfall treffen, deutlich und mit dem Bewusstsein des Inhalts sprechen – das gibt es bei Sängern vom Konservatorium nicht. Was sie dort lehren ist eine sehr eingeengte Auffassung von Gesang. Konsonanten hört man nie, und die Vokale klingen im Grunde alle gleich, das ist doch nicht gut. Und jeder Ton hat einen Bauch, einen leisen Beginn und einen leisen Schluss – auch nicht gut. Und sie hören Sängern anderer Kunstrichtungen nicht zu, wie den Eskimos, Javanern, Jazz-Sängern, Kabarettsängern oder Popsängern - ganz zu schweigen von Noh-Sängern und der chinesischen Oper.

Ich habe natürlich leicht reden, weil Cristina alles singen kann, was ich hören will. Sie singt mit ganz verschiedenen Vibrati, ähnlich wie Ella Fitzgerald. Manchmal klingt es messerscharf, und im nächsten Takt ist es auf einmal ganz anders. Von dieser Flexibilität rede ich. Wir müssen erklären, dass das möglich ist und Komponisten sollten für solche Stimmen schreiben. Wenn wir das machen, entsteht auch ein Repertoire und dann kommen die Sänger und Sängerinnen von ganz allein.'


© Frits van der Waa 2008